Berlin steht vor großen Herausforderungen: Die Stadt wächst, wird internationaler, die Schere zwischen arm und reich wird größer, die Räume werden knapper und die Luft wird schlechter. Die Arbeitswelt wird komplexer an Voraussetzungen und Perspektiven, öffentliche Raum und Begegnungsorte jenseits geschlossener Szenen sind rar. Die üblichen Problemzonen einer Metropole zeichnen sich ab, das Kapital verdrängt die Phantasie!
Wie wollen wir künftig zusammenleben? Berliner:innen brauchen mehr Raum für Begegnung und zum aktiven Ausprobieren: Eine lebendige Urbane Praxis! In der ganzen Stadt gibt es eine Reihe von divers agierenden Akteur:innen und Projekten, die nicht unter die gängigen Genres gefasst werden können.
Ein Beitrag der Initiative Urbane Praxis
Urbane Praxis Plakat, Gleisdreieck. Foto: ©S27, Luis Krummenacher, 2021
Auf Vorschlag des Rats für die Künste wurde 2019 die Initiative Urbane Praxis gegründet. Sie führt Berliner Künstler:innen und Stadtaktivist:innen zusammen, die in verschiedenen Campusprojekten und Stadtlaboren das Aktionsfeld stadträumlicher Transformationen als kulturelle Praxis erproben. Im Rahmen Urbaner Praxis entstehen Orte und Aktivitäten, die interdisziplinär, selbstorganisiert, nicht-kommerziell und gemeinwohlorientiert in die Nachbarschaft wirken und dabei gemeinsame Zukünfte erproben.
Stadtraum gemeinsam bestimmen und gestalten
Urbane Praxis ist ein internationales Phänomen, das Stadtentwicklung im Zentrum und in der Peripherie als gemeinsames, kreatives Vorhaben aller Bewohner:innen begreift. Es verbindet Themen und Praktiken der Stadtentwicklung mit denen der Kunst, Kultur, Sozialem, Integration, Umwelt, Bildung und Jugend. Die Künste übernehmen in der Urbanen Praxis eine führende Rolle, stellen Fragen des Zusammenlebens neu und bringen verschiedene Sphären der Zivilgesellschaft zusammen. So entstehen überraschende Orte, Momente und Ideen, die städtischen Prozessen neuen Input geben und die städtischen Bewohner:innen selbst in eine beteiligte, gar handelnde Rolle bringen.
Stadtwerk mrzn. Foto: © S27, Nils Koenning, 2020
Soll die Berliner Boden- und Liegenschaftspolitik neu ausgerichtet werden, stellen die Urbane Praxis und deren Experimentierflächen ein essenzielles Werkzeug in dieser Ausrichtung dar.
Kunst und Kultur haben auch historisch im Bereich der Stadtentwicklung starken Einfluss auf Berlin: Häuserlückenspielplätze, Brachenkultur, Ruinenbelebung, Schaffung experimenteller Wohn- und Lebensräume inmitten komplexer Transformationsprozesse. Was früher noch mit viel Platz und unter wenig Beobachtung fast von allein passierte, braucht im hart umkämpften Stadtraum jetzt neue Strategien und Strukturen. Stadträumliche Transformation steht auch im Zentrum der Diskussionen um eine Neuausrichtung der Boden- und Liegenschaftspolitik. Darin geht es immer auch um die Aushandlung, wofür der Boden in der Stadt gebraucht wird: Urbane Praxis kann eine Methode sein, mit deren Hilfe diese Aushandlung geführt wird. Die Campusanlagen der Urbanen Praxis sind bspw. Orte für neue, multicodierte Nutzungstypologien städtischen Bodens. Als Erprobungsräume in der Stadt werden hier disziplinübergreifende Formen gemeinschaftlichen Stadtraums, gesellschaftlicher Aushandlung, ökologischer Kreisläufe, ökonomischer Mechanismen, alltäglicher Bedarfe und visionärer Gestaltung für Berlin erschlossen. Soll die Berliner Boden- und Liegenschaftspolitik neu ausgerichtet werden, stellen die Urbane Praxis und deren Experimentierflächen ein essenzielles Werkzeug in dieser Ausrichtung dar.
Wer ist Urbane Praxis?
Urbane Praxis besteht in Berlin aus historisch gewachsenen und jüngst aufgebauten Standorten mit verschiedenen Akteursgruppen, Herangehensweisen und lokalen Zusammenhängen. Zu den Pilotorten der Initiative Urbane Praxis gehören seit 2020 die sechs Knotenpunkte der Berlin Mondiale, das ZK/U, der Baupalast und CoCooN am Dragonerareal, das Haus der Statistik, das Stadtwerk mrzn, die Floating University, sowie die station urbaner kulturen / nGbK Hellersdorf. Die Berlin Mondiale und ihre sechs Knotenpunkte verstehen Urbane Praxis als radikal diverse Praxis, durch die sichergestellt wird, dass strukturellen Ausschlüssen in Kunst und Kultur, sowie im Stadtraum entgegengewirkt wird. Die Netzwerkarbeit konzentriert sich auf die dezentrale Kulturarbeit in Sozialräumen mit dünner kultureller Infrastruktur.
Nachbarschaftscampus Dammweg, 48 Stunden Neukölln, Berlin Mondiale. Foto: Mohamed Badarne, 2021
Der Baupalast schafft offene Werkstätten im Modellprojekt Rathausblock und erprobt damit eine Infrastruktur für selbstorganisierte Gemeinschaftsräume des Quartiers. Diese Räume ergänzen die Kooperations- und Beteiligungsformate um praktisch formulierte Zukünfte.
Das Haus der Statistik zeigt auf, welche Qualität in der disziplinübergreifenden Produktion von Stadt steckt: Neue Materialkreisläufe werden forschend erprobt, Kulturschaffende thematisieren aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse und soziale Träger bauen schon während der Planungsphase reale Unterstützungsstrukturen für die Umgebung auf. Hier wird Stadt nicht geplant, sondern auf der Handlungsebene der Praxis entwickelt. Das dort angedockte Projekt „ÜBER Urbane Praxis“ zeigt und diskutiert grundlegende Prinzipien und Qualitäten Urbaner Praxis in Berlin.
Das Stadtwerk mrzn befindet sich am wahrgenommenen Rand der Stadt und ist experimentelle Baustelle für die Nachbarschaft. Der ehemalige Parkplatz ist Schnittstelle für Kunst, Sozialarbeit und Raumplanung und schafft die Infrastruktur für Verantwortungsübernahme, Selbstwirksamkeitserfahrung und trans-lokale Zentren.
Die Floating University ist ein Ort der Vieldimensionalität, statt Monofunktionalität. Wo vorher nur Regenwasser gesammelt wurde, gibt es jetzt einen Aktionsraum. Studierendengruppen verschiedener Hochschulen nutzen den Ort zum Arbeiten, ebenso wie die Kinder der kids university, Künstler:innen und Umweltgruppen.
Bei der station urbaner kulturen in Hellersdorf arbeiten Künstler:innen mit lokalen Partner:innen in den Bereichen Bildung, Inklusion, Kinder- und Jugendarbeit, Kultur, Naturschutz, Sport, Stadtentwicklung an einer Neuinterpretation der funktionsgetrennten Stadt.
Das Projekt CoCooN begleitet die Initiative, indem es eine Plattform zur dezentralen Erhaltung von praktischem, informellem, aktivistischem Wissen aufbaut. Damit thematisiert es die Projektlogik als spezifische Herausforderung des Netzwerks.
Potenziale und strukturelle Hürden
Urbane Praxis kann ein Werkzeug für die gemeinwohlorientierte, nachhaltige Transformation der Stadt und ihrer Liegenschaftspolitik sein. Die Arbeit in der Praxis zeigt jedoch schwer zu überwindende Herausforderungen auf: Die Clusterung der Liegenschaften nach separierten Nutzungskategorien, sowie die versäulten Strukturen der Verwaltung verunmöglichen oftmals Urbane Praxis. Bei Genehmigungsprozessen, Verstetigungsvorhaben oder Förderanträgen stößt die disziplinenübergreifende Herangehensweise einer kulturell informierten Stadtproduktion an die Grenzen aktueller Strukturen. Urbane Praxis geht über die Idee der Beteiligung bei Stadtentwicklungsprozessen hinaus und macht Räume auf, in denen Berliner:innen selbst Stadt machen. Dafür braucht es Flächen und Ressourcen, auf und mit denen die Urbane Praxis nachhaltige Transformationen anschieben kann.
Um eine Ermöglichungskultur zu schaffen, hat die Initiative Urbane Praxis einen Aktionsplan erarbeitet, in dem sie Lösungsvorschläge und Forderungen für den Ausbau der Urbanen Praxis formuliert.
Die Forderungen beziehen sich auf drei zentrale Stränge:
Strukturaufbau: “Das BÜRO Q – Büro für urbane Querschnittsaufgaben”
Verstetigung: Sicherung der Freiräume und Communities, die durch die Aktivitäten der Urbanen Praxis bereits aufgebaut wurden
Experimente: Projektmittel für Nachwuchsakteur:innen der Urbanen Praxis
„Lobby“ Eröffnung, 2021 Foto: S27, Johanna Lucht
Bisherige Erfahrungen aus dem Projektbüro Urbane Praxis und den Runden Tischen der Urbanen Praxis zeigen, wie notwendig der Ausbau kooperativer Strukturen zwischen Verwaltung und Praktiker:innen ist. Nach dem „Erprobungsjahr“ müssen jetzt verbindliche Strukturen etabliert werden, in denen kooperativ zusammengearbeitet werden kann. Eine intermediäre Figur wie das Büro Q muss diesen Umstrukturierungsprozess auch in der Verwaltung unterstützen – z.B. durch eine ressortübergreifende und intermediäre Verwaltungs-AG, zusammengesetzt aus den Bereichen Kultur, Stadtentwicklung/Wohnen, Umwelt, Soziales, Bildung/Jugend.
Seit Montag ist klar: Die Initiative Urbane Praxis steht im Koalitionsvertrag der neuen Berliner Regierung. Sie soll durch den Aufbau kooperativer Strukturen und geeigneter Fördermodelle unterstützt werden. Eine vielversprechende Grundlage für die weitere Arbeit! Doch: Wie wird Berlin in der kommenden Legislaturperiode und darüber hinaus innovativ mit den eigenen Raumressourcen umgehen und neue Orte des gemeinsamen Stadtgestaltens eröffnen? Ausgerichtet vom Büro Q als Diskussionsplattform zu städtischen Transformationsprozessen soll der „Monat der Möglichkeiten“ jährlich innovative Ansätze – „Baustellen“ Urbaner Praxis –stadtweit als Modelle diskutieren.
Viele Projekte der Urbanen Praxis kämpfen mit dem Konflikt, der sich aus der grundlegenden Förderlogik ergibt: Während künstlerische Projektförderung singuläre Ereignisse ermöglicht, geht es in den Projekten der Urbanen Praxis oft um den Aufbau eines Ortes der eine mittel- bis langfristige Perspektive hat. Obwohl sich die Initiative Urbane Praxis zum Ziel gesetzt hat, bessere Sicherungs- und Fördermechanismen in Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung zu entwickeln, stehen ganz konkret nun zum Ende des Förderjahres viele Projekte vor der existenziellen Frage, ob und wie es möglich sein wird, die geschaffenen Freiräume und deren Communities aufrecht zu erhalten.
Werkstatt Büro für urbane Querschnittsaufgaben – © S27, Luis Krummenacher, 2021
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